Vortrag 2/2 – Do, 22.5.2014 – Paul Pflüger (München)
Historiker erzählen weder einfach wie es einmal gewesen ist, noch erklären sie vergangene oder gegenwärtige Formen von Staat, Ökonomie und Gesellschaft für sich. Sie wollen „die gegenwärtige Welt als historisch gewordene“ verstehen. Die Erklärung ihrer Gegenstände suchen sie in deren Vorgeschichte. Die Ursprünge halten sie für Ursachen. Und weil die Gegenwart und das nationale Selbstbild sich immer wieder ändern, schreiben Historiker die Geschichte, aus der sie die Gegenwart sinnvoll finden, circa alle 20 Jahre um.
Geschichte
Die Verwechslung von Begriff und Genese
Historiker halten bei allen Gegenständen die immer gleiche Bestimmung fest, Produkt der Geschichte zu sein. „Die Geschichtswissenschaft gründet auf der Überzeugung, dass die Gegenwart aus der Vergangenheit hervorgeht”, heißt es. Das Wesen der Dinge liegt damit in ihrem Bewirktsein durch Anderes, Früheres. Ein Historiker will „die gegenwärtige Welt als historisch gewordene erklären“. Die Kardinalfrage des Historikers lautet: Wie ist es zum Gegenstand meines Interesses gekommen? Eine geschichtliche Erklärung liegt immer in der Entstehung. Ursache ist immer der Ursprung. Geschichte ist für einen Historiker nicht das, was erklärt werden soll, sondern das, womit alles erklärt werden muss. Es geht nicht um die Erklärung geschichtlicher Phänomene, sondern um die geschichtliche Erklärung der Phänomene.
Damit ist eine entscheidende Weiche gestellt: Der Schlüssel zur historischen Erkenntnis eines Gegenstandes liegt programmatisch außerhalb des Gegenstands in dessen ‚Vorgeschichte’. Um einen Gegenstand zu erklären, wendet sich der Gedanke im Rückwärtsgang von ihm ab und vorausgehenden, oft weit zurückliegenden Geschehnissen zu. Der Gedanke entfernt sich damit von seinem Gegenstand, um sich im weiten Feld seiner Vorgeschichte nach Entstehungsbedingungen umzutun, die seine Entstehung bewirkt haben sollen. Das heißt nicht, dass über den zur Debatte stehenden Gegenstand nichts gesagt worden wäre. Mit dem Erklärungsprinzip ‚Vorgeschichte’ ist er kategorisch als Wirkung früher datierender Ereignisse identifiziert. Und die zur Erklärung herangezogenen Begebenheiten der Vorgeschichte haben auch schon ihre spezifisch historische Qualität abbekommen: Sie sind Ursache für Späteres. Jedes Phänomen wird von der Warte eines anderen aus rezipiert. Die historischen Phänomene geben sich – unter der Ägide ihres Interpreten – wechselseitig ihren Begriff. Die Identität einer Sache wird damit in dem angesiedelt, was sie nicht ist. Jeden Gegenstand lässt der Historiker in die Verhältnisse zerfallen, deren Ergebnis er sein soll bzw. für die er als Bedingung oder Ursache zitiert werden kann. Nichts gilt für sich, nichts muss folglich hinsichtlich seiner Qualitäten bestimmt werden. Die Begriffslosigkeit ist Programm. „Die Historie lässt die Gegenwart in die Vergangenheit vergehen.“ In der Tat: Historische Erklärungen verlaufen sich in der Vorgeschichte ihres Themas.
Die solchermaßen konstruierten geschichtlichen Zusammenhänge sind notwendig abstrakter Natur: Wer sich von vornherein einen Begriff des zu erklärenden Gegenstand erspart, kann unmöglich seine notwendigen Entstehungsbedingungen darlegen. Deswegen sind trübe Prädikate wie ‚führte zu’, ‚mündete in’, ‚brachte hervor’, ‚hatte Einfluss auf’, ‚war Voraussetzung für’, ‚hängt zusammen mit’, ‚bahnte an’ und am schönsten: ‚zeitigte’ die allgegenwärtigen Formeln zur Erzeugung eines Scheins historischer Folgerichtigkeit. Das reflektiert diese Wissenschaft nicht als Manko. Im Gegenteil: Es eröffnet ihr eine immense Freiheit der Interpretation: ‚Jede Generation muss ihre Geschichte neu schreiben’, sagt man sprichwörtlich. Man kann sich darauf verlassen, dass die historische Weisheit immer aktuell ist.
Do, 22.5.2014, 19:15 Uhr im Kollegienhaus, Raum 1.016, Universitätsstraße 15, 91054 Erlangen
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